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Hände weg vom Steuer: Der Mercedes EQS gleitet selbstständig über den Asphalt

Autorenbild: Armin GrasmuckArmin Grasmuck

Autofahren der neuen Dimension: Der EQS gleitet im Berufsverkehr oder Stau selbständig über den Asphalt.


Aus dem Cockpit des nächsten Giganten von Mercedes strahlt die Zukunft. Klare Formen mit leichtem Schwung, dezent beleuchtet. Und ja, das Lenkrad ist selbstverständlich auch elegant integriert worden. Die Kraft und den Zauber, die das runde Steuerelement den Händen des Fahrers seit mehr als 120 Jahren verleiht, gehen im EQS, dem Elektroableger der neuen S-Klasse, allerdings ein wenig verloren. Keine Hände am Steuer, kein Fuß auf dem Pedal: In der nächsten Dimension des Autofahrens denkt und lenkt das Vehikel selbständig – zumindest im unter Bereich des Tachometers. Ist der „Drive Pilot“ auf Level 3 aktiviert, fährt der EQS automatisch. Das Auto bremst, es gibt Gas, es überholt, es schert ein und es bleibt stehen, wenn es sein muss. Der Fahrer kann sich derweil anderen Dingen widmen, den Blick aus dem Fenster genießen, seine E-Mails checken oder einen Film anschauen.


„Überlegen Sie mal, wie oft Sie im Stau stehen, beim Pendeln oder im Berufsverkehr“, sagt Ola Källenius, Chef der Daimler AG, während einer Fahrt auf dem groß angelegten Mercedes-Testgelände in Immendingen (Baden-Württemberg): „Da könnte ein automatisiert fahrendes Auto mit künstlicher Intelligenz für sehr viel Entspannung sorgen.“ Es ist nur noch ein Frage der Zeit. Gibt die Politik wie allseits erwartet alsbald die Erlaubnis, ist das automatisierte Fahren in Deutschland noch in diesem Jahr erlaubt. „Unser Drive Pilot wird das erste Level-3-System sein, bei dem sich der Fahrer nach Aktivierung von der Fahraufgabe abwenden und zum Beispiel im Internet surfen kann“, so erklärt es Källenius.


Sten Ola Källenius: Der am 11. Juni 1969 im schwedischen Västervik geborene Top-Manager ist der Mann, der die Daimler AG und speziell Mercedes als Primus im Bereich der Elektromobilität etablieren soll. Seinen Start ins Berufsleben absolvierte er im Jahr 1993 in der „Internationalen Nachwuchsgruppe“ des Unternehmens, das damals noch Daimler-Benz AG hieß. Seit Mai 2019 ist er der Vorstandsvorsitzende des deutschen Weltkonzerns.

Das autonome Fahren, dieser revolutionäre Wandel vom Menschen zum Computer am Lenkrad, ist das Thema, das die Autowelt rund um den Globus elektrisiert und polarisiert. Roboter-Karossen, die sich selbständig bewegen und untereinander kommunizieren, ohne Einfluss eines Steuermanns aus Fleisch und Blut. Dieses völlig neue Erlebnis des Autofahrens, das so viel verspricht – und doch mit manchem Zweifel und reichlich Unbehagen behaftet ist.


Stichwort Sicherheit. Der verkehrspolitische Rahmen, die meisten Autohersteller, auch die Straßen und die entsprechende Infrastruktur wirken von dem in jeder Hinsicht ausgereiften Gesamtkonzept, das Autonomes Fahren im großen Stil möglich macht, noch sehr weit entfernt. Mercedes scheint zumindest im eingeschränkten Bereich bereit zu sein, die nächste Stufe des Fortschritts zu bewältigen. „Es genügt nicht, dass die Technik 99 Prozent sicher ist“, sagt CEO Källenius. „Sie muss sich mindestens so sicher verhalten wie ein verantwortungsbewusster, vorbildlicher Fahrer. Dies ist der Vergleichsmaßstab, der auch von der Ethik-Kommission der Bundesregierung vorgegeben ist. Einen Unfall würde man einem automatisiert fahrenden Auto noch viel weniger verzeihen als einem Menschen.“


Zuverlässigkeit hoch drei


Im EQS und der S-Klasse sollen drei Systeme die größtmögliche Sicherheit garantieren: Kameras, Laser- und Radarinstrumente erfassen unabhängig voneinander Daten, die das Auto, den Verkehrsweg und die nähere Umgebung betreffen. Auf Basis dieser nüchternen Fakten trifft der autonom gesteuerte Wagen seine Wahl. Er bewertet das Verkehrsgeschehen auf der Straße, das Wetter, auch überraschende Situationen, Menschen und Tiere auf der Fahrbahn. Liegt da ein Felsbrocken, eine Papiertüte vielleicht? Kameras, Laser, Radar und die entsprechend programmierten Chips und Platinen müssen das Urteil fällen, im Idealfall besser und auch schneller, als der Mensch am Lenkrad es könnte. Daimler, der traditionsreiche Weltkonzern mit der Zentrale in Stuttgart, setzt bewusst auf Elektrofahrzeuge und die dafür entwickelten Technologien, auch in den Bereichen der kleineren Nutzfahrzeuge und Lkw für die Stadt.


Aktiver Spurwechsel-Assistent: Der EQS übernimmt, so der Fahrer es wünscht,­ ­selbständig den Überholvorgang – wenn Kameras, Sensoren und Radar im relevanten Bereich keine Gefahren erkannt haben

Das Nonplusultra


Auf dem Sektor der Stromer setzt der EQS naturgemäß neue Maßstäbe. Mercedes bietet sein Flaggschiff mit z

wei Akkugrößen an. Die Batterien, die im Unterboden verbaut sind, werden mit zehn Modulen und der Kapazität von 90 kWh oder mit zwölf Modulen bei 107,8 kWh ausgeliefert. Die Reichweite gibt der Hersteller nach WLTP-Standard mit 770 Kilometern an. Maximal 200 kW beträgt die Ladeleistung, damit soll die Nobelkarosse in nur 15 Minuten stolze 300 Kilometer Reichweite generieren können. Im Gegensatz zu den Konkurrenten von Audi, Hyundai und Porsche, deren Batterien über die noch schnellere 800-Volt-Technik aufgeladen werden, setzt Mercedes auf 400 Volt. Der EQS ist mit Hinterradantrieb und der Leistung von 245 kW (333 PS) oder in der Allradversion (385 kW/524 PS) erhältlich, der Einstiegspreis liegt bei rund 100.000 Euro. Um potenzielle Kunden von der Qualität der Akkus und deren verlässlicher Kapazität zu überzeugen, stellt Mercedes ein eigenes Zertifikat aus, das die Leistungsfähigkeit der Batterien über zehn Jahre oder 250.000 Kilometer garantiert.

Auto 3.0


Der große Elektro-Daimler ist seiner Zeit in vielerlei Hinsicht weit voraus. Mit welchem künstlerischen Geschick flotte Automobilkonzepte und leistungsstarke Akkumotoren kombiniert werden können, beweist sein einzigartiges Design. Keine Spur mehr von den klassischen Stufenelementen Motor, Dach und Kofferraum mit den dazugehörigen Säulen. Der EQS ist in einem dynamisch und frisch wirkenden Bogen vom Kühlergrill zum Gepäckfach geschwungen, der entsprechend lange Radstand macht die Rücksitzbank zur knautsch- und knitterfreien Zone. Fährt der gut fünf Meter lange Wagen tatsächlich automatisch, bekommt selbst der Steuermann dieses Gefühl des ruhigen und nachhaltigen Entspannens zu spüren. Der sogenannte Hepa-Filter sorgt für die sauberste Luft, die jemals in das Innere eines Autos geblasen worden ist. Laut Mercedes werden von dem hochmodernen Ansaug- und Klärelement sogar die Corona-Viren in all ihren Varianten am Eindringen gehindert und konsequent draußen gehalten. Das ultimative Fahrgefühl wirkt in höchstem Maße, wenn alle künstlich imitierten Geräuschkulissen ausgeschaltet sind – und nur der Wind sanft um das schnittige Gefährt schleicht.


Hightech-Cockpit


Der neu entwickelte Hyperscreen ist das zentrale Element im Wageninnern – und das Nonplusultra auf dem Gebiet des mobilen Infotainments weltweit. Der Bildschirm, der mit einer leicht gebogenen Glasscheibe von Tür zu Tür reicht, wirkt wie ein perfekt animiertes Breitbandkino – mächtig und von größtmöglichem Komfort. Unter dem Motto „Augmented Reality“ (erweiterte Realität) werden der Fahrer und seine Gäste im Auto vom ersten Tag über eine Vielzahl von Assistenzsystemen und anderen Hilfsmodulen begleitet und unterstützt. Der Clou: Kilometer für Kilometer erfasst das Steuerboard sämtliche Vorlieben, Gewohnheiten und Routinen von bis zu sieben Lenkern. Je intensiver die Datenlage, desto wahrscheinlicher schlägt der elektrotechnische Freund und Helfer smarte Bedienschritte vor, die dem Lenker das Handeln erleichtern sollen. Selbstverständlich ermuntert das System den Fahrer auch dazu, die Kontrolle abzugeben und sich autonom zu bewegen, wenn der Stau sich lang und nervenaufreibend zu gestalten droht.


Hyperscreen: Das futuristisch anmutende Display ist 141 Zentimeter breit und unter einem gebogenen Deckglas eingebaut

Auf dem Weg in die Zukunft


Doch selbst wenn der Mensch am Steuer des EQS die Taste „Drive Pilot“ drückt und damit das automatische Fahren auf Level 3 aktiviert, ist er angehalten, wachsam zu bleiben und immer eine Auge auf der Straße zu haben, um in kritischen Situationen das Lenkrad wieder übernehmen zu können. Als hundertprozentig autonom werden Autos erst bezeichnet, wenn sie generell ohne Steuer und Pedale auskommen und dauerhaft keine menschliche Hilfe benötigen. Im Fachjargon: ab Level 4. „Im günstigsten Fall kann ich mir automatische Citytaxis und Kleinbusse schon in gut fünf Jahren vorstellen, die in ausgewählten Gebieten zu jeder Tages- und Nachtzeit Menschen fahren“, sagte Christoph Stiller, der Leiter des Instituts für Mess- und Regelungstechnik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) jüngst dem Fachmedium Science Media Center. Im Gegensatz zum legeren Verkehren auf Level 3 werden die Fahrer von Privatwagen noch einige Zeit auf diese Technik warten müssen.

Zwar haben die Autos, die auf dem vollautomatischen Level 4 getestet worden sind, bereits beachtliche Fähigkeiten demonstriert und entsprechende Werte erzielt. Von der hundertprozentigen Zuverlässigkeit, die im Straßenverkehr auch jenseits der Grenze von 60 km/h erforderlich ist, sind sie jedoch noch weit entfernt. „Die größte technische Herausforderung liegt aktuell darin, dass wir für entsprechende Systeme der Künstlichen Intelligenz bisher nicht in der Lage sind, Garantien über ihr korrektes Verhalten beziehungsweise dessen Grenzen anzugeben“, erläutert Philipp Slusallek, Wissenschaftlicher Direktor am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Saarbrücken. Das vollautomatische Fahren auf Level 4 ist ein Zukunftsmarkt, der von drei mächtigen Blöcken – den traditionsreichen Autoherstellern, amerikanischen IT-Riesen wie Apple und Google sowie E-Mobilisten wie Tesla – umkämpft wird.



Volle Kraft voraus


Die großen Hersteller setzen vorerst gezielt auf das hochautomatisierte Fahren, wie es auf Level 3 möglich ist, als komfortables Extra für den geneigten Käufer. Einfach und bequem, so lautet das Motto: Ist die Parkgarage entsprechend aus- und aufgerüstet, kann der Besitzer des EQS beispielsweise bereits ab diesem Herbst an der Einfahrt aussteigen und seinen Wagen abgeben. Der Mercedes sucht sich selbständig einen freien Platz, parkt ein und kommt zur programmierten Zeit zur Ausfahrt gefahren. Wie alltagstauglich das Auto im Parkhaus und speziell im Straßenverkehr funktioniert, wird selbstverständlich zu beweisen sein. Selbst der Fahrzeugführer mit dem Sinn für die modernen Attitüden hat bis auf Weiteres auch das gute, alte Lenkrad fest im Blick.


Alles im Blick: Über die Map sucht der EQS selbständig ein speziell aufgerüstetes Parkhaus, in dem er vollautomatisch seinen Stellplatz findet

Bildquellen: Mercedes

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