Premium auf der Langstrecke: Volvo EX90 im ELECTRICAR-Praxistest
- Armin Grasmuck

- 18. Sept.
- 5 Min. Lesezeit
Die Begleitmusik zu diesem Testfahrzeug hat ziemlich schräge Töne. Just in dem Zeitraum, da der Volvo EX90 zu uns gebracht wird, bewertet der renommierte Consumer Report diesen Neustarter in den USA wie folgt: dauerhafte Macken beim Starten, mehrfacher Ausfall der Bordelektronik, Klimaanlage und Audiosystem defekt sowie einiges mehr. Es wirkt furchterregend, was die amerikanische Prüfinstanz, vergleichbar mit der deutschen Stiftung Warentest, übermittelt. Andererseits: Die Kritik klingt derart derb, dass es schwer fällt, sie pauschal zu betrachten. Volvo, das heißt traditionell eigentlich Premiumklasse. Da fällen wir selbstverständlich gern unser eigenes Urteil.

Auf den ersten Blick wird klar: Dieses SUV ist massiv und mächtig. Gut fünf Meter lang, mehr als fünf Tonnen schwer. Drei Sitzreihen, sechs Plätze – und viel Volumen in allen Sequenzen. Unser Testwagen fährt in der allradgetriebenen Variante EX90 Twin Motor AWD Ultra vor. Der zartbeige Lack, in der Farbpalette als Sand Dune Metallic beschrieben, gibt dieser Wuchtbrumme geschmeidige, edle bis elegante Akzente.
Dazu passt die Frontpartie im speziellen Stil von Volvo. Klar definiert, konsequent geschlossen, das bekannte Markenlogo als zentrales Element und die außergewöhnlich gestalteten Scheinwerfer, von den Designern angelehnt an den germanischen Gott als „Thors Hammer“ bezeichnet. Clou: Die markanten Leuchten können sogar zwinkern. Immer dann, wenn sie vom Tagfahrlicht zum Abblendlicht umschalten.
Wow, was für Sitze!
Unser Testwagen fährt mit 22 Zoll starken und sportlich akzentuierten Alufelgen vor, die perfekt zum diesem riesigen SUV passen. Ja, das ist ein echter Volvo – mit lang gezogener Frontklappe, unter der sich ein Frunk mit dem Ladevolumen von 49 Litern befindet, flacher Windschutzscheibe und der geraden Dachlinie, die in dem Spoiler ausläuft. Auch das Heck: typisch Volvo in modern, kantige LED-Leuchten inklusive. Der Radstand beträgt knapp drei Meter, was reichlich Platz im Innenraum verspricht. Wir treten näher, die Türgriffe fahren automatisch aus. Leicht daran gezogen, Türe auf. Wir steigen ein – und fühlen uns wohl.

Es liegt zuallererst an den Sitzen. Da gerät selbst der flexibel einsetzbare Vielfahrer ins Schwärmen: Wow, was für Sitze! Sie sind ergonomisch geformt, bieten starken Halt, wirken wie angegossen. Für noch mehr Komfort im Bereich der Oberschenkel kann das Sitzkissen zudem nach vorn ausgezogen werden. Unsere Sitze sind serienmäßig beheizbar. Optional ist es möglich, eine Belüftung und die Massagefunktion dazu zu buchen.
Auch in der zweiten Sitzreihe, die in unserem EX90 mit zwei Plätzen ausgestattet ist, reisen selbst groß gewachsene Passagiere höchst komfortabel. Armstützen mit integrierten Getränkehaltern, USB-Anschlüsse, eigene Regler für die Klimaanlage – es hat etwas von der Business Class, wie sie aus den Flugzeugen der Langstrecke bekannt ist. In der dritten Sitzreihe, die dieser Volvo bietet, wird der Platz natürlich etwas knapper. Zwei Kinder oder Jugendliche können sich hier wohlfühlen, die Ausgewachsenen wohl nur auf kürzeren Distanzen.
Angenehme Ruhe
Jetzt geht‘s los! Den Startknopf suchen wir vergeblich. Einfach das Schlüsselelement im Format einer Scheckkarte in direkter Nähe der induktiven Ladeschale im vorderen Bereich der Mittelkonsole platzieren – damit der E-Volvo uns erkennt. Den Fuß auf das Bremspedal, dann den Wahlhebel rechts hinter dem Lenkrad nach unten drücken. D wie Drive. Fuß von der Bremse, los rollt der EX90. Das heißt, er gleitet. Auf den ersten Metern hören so gut wie kein Fahrgeräusch. Dafür fällt uns direkt auf: Dieser Fünfmeterkoloss lenkt sich locker und leicht wie ein sportliches Modell der Mittelklasse.

Nach den ersten Kilometern in der Metropole ist uns klar: Diese Agilität und das moderne Sicherheitssystem aus Kameras und Sensoren im 360-Grad-Spektrum hat dieser SUV dringend nötig. Denn immer wenn es eng wird – im Bereich von Baustellen, auf den Standplätzen am Supermarkt oder im leicht angestaubten Parkhaus – ist der riesige Volvo mit bloßem Auge nur schwer zu steuern. Der Blick auf den 14,5 Zoll großen und im Hochformat zentral auf dem Armaturenbrett angeordneten Touchscreen hilft. Da wird das Fahrzeug zuverlässig aus allen Blickwinkeln dargestellt, was das Einparken erleichtert und mittelfristig auch die schicken Felgen schont.
Stilvoll arrangiert
Im zähen Stadtverkehr fällt uns zudem auf: Der ganze Trubel, die Geräusche der anderen Motoren, das Gehupe und Gedrängel – all das lässt der EX90 konsequent an seiner stabilen Karosserie abprallen. Der Innenraum ist wohltuend ruhig, gediegen die Atmosphäre. Auch die höchst sommerlichen Außentemperaturen – 31 Grad im Schatten – lassen uns kalt. Im Volvo bläst nur sanft die Klimaanlage, konstant bei angenehmen 24 Grad und ohne den Hals und die Muskulatur des Passagiers anzugreifen.

Der EX90 ist stilvoll arrangiert. Hochwertige Materialen, feine Ziernähte, Akzente aus Metall. Pure Eleganz im nordischen Design. Die höchsten Standards für Umwelt und Tierschutz sind laut Hersteller im Innenraum erfüllt: FSC-zertifiziertes Holz sowie teils wiederverwertete Sequenzen aus Stahl, Aluminium und Wolle. Nachhaltig gestört werden wir nur für ein paar Sekunden, da strahlt die Sonne durch das Panoramadach dem Fahrer direkt ins Gesicht und gebrochen über die metallische Zierleiste am unteren Rand des Armaturenbretts gleichzeitig auch noch in die Augen. Rechte Hand zum Schutz an die Schläfe, ein paar Augenblicke später ist der Spuk vorüber.
Touchscreen klar definiert
Alle Funktionen, die zum Steuern des E-Volvo benötigt werden, sind vom Fahrerplatz aus einfach und intuitiv zu bedienen – die meisten per Knopfdruck oder über die Schalthebel am Lenkrad. Klar definiert und einfach zu erfassen ist auch das hinter dem Steuer positionierte Fahrerdisplay, das die wichtigsten Informationen wie Geschwindigkeit, Batteriestand und Reichweite anzeigt. Aktuelle Daten gibt es auf dem Head-up-Display.

Auffällig ist, dass die Entwickler des schwedischen Herstellers an der Fahrertür und speziell im Bereich der Mittelkonsole die Zahl der Druckknöpfe und Schalthebel konsequent auf ein Minimum reduziert haben. Außenspiegel einstellen oder einklappen, Sitzheizung, die Klimaanlage – alles auf dem Touchscreen. Es wirkt erst einmal herausfordernd. Die Software ist jedoch, passend zum Stil von Volvo, klar definiert. Und, es sei an dieser Stelle angemerkt: Der Touchscreen unseres Testwagens verarbeitet jeden Fingerwisch und Drücker professional, direkt und zuverlässig.
Aufmerksame Kameras
Premiumklasse, das ist der EX90 auch und vor allem auf den Fahrten über mittlere und lange Distanzen. Rauf auf die Autobahn, den adaptiven Tempomaten aktiviert. Da wird selbst die Langstrecke zum Genuss. Wir bewegen uns im Bereich zwischen Tempo 130 und 140. Der adaptiv gesteuerte Volvo hält konsequent den Abstand zu den Vorausfahrenden.

Wir brauchen nur noch zu lenken – bei voller Konzentration auf den Straßenverkehr, versteht sich. Der Blick in die falsche Richtung, geistige Abwesenheit oder Müdigkeit werden von den Kameras im Innenraum sofort registriert und entsprechend geahndet. „Bitte auf das Fahren konzentrieren. Sie scheinen abgelenkt zu sein“, so ist es von einem Piep angekündigt auf dem Fahrerdisplay zu lesen, selbst wenn der Blick nur etwas zu lang auf der Karte der Navigation haften blieb.
Nachhaltig preisintensiv
Höchster Fahrkomfort, massiven Vortrieb inklusive, dazu die Technik und Software auf dem neuesten Stand – das hat im Gesamtpaket selbstverständlich seinen Preis. Die 126.680 Euro, mit denen unser zweifellos sehr gut ausgestatteter Testwagen zu Buche schlägt, reduzieren den Kreis der potenziellen Käufer jedoch auf nachhaltig erfolgreiche Geschäftsleute, Firmeninhaber und vermögende Privatkunden. Festzuhalten gilt in jedem Fall: Die Ausfahrten in unserem Volvo EX90 hätten höchstwahrscheinlich auch die Kollegen aus Amerika genossen.


